In den vorherigen Teilen (1), (2) der Artikelserie ging es primär um die weit verbreitete Fatigue nach Tumorerkrankung und ‑therapie (engl. Cancer related Fatigue; CrF). In diesem Teil wollen wir etwas über den Tellerrand hinaus blicken auf die Chronische Fatigue (CFS) und die zum Teil leider kontrovers und ideologisch geführten Diskussionen wenn es um Ursachen, Diagnosekriterien und Behandlungsmöglichkeiten geht.
gleich vorweg sei gesagt: eine umfassende Beleuchtung des Themas oder gar abschließende Beurteilung wird mir nicht gelingen!
Disclaimer
bei diesem Beitrag handelt es sich um ein »Work in Progress« – das heißt, ich nehme mir heraus, den Text mit dem Vorliegen neuer Erkenntnisse entsprechend zu überarbeiten und zu ergänzen.
Betroffen von den heterogenen, aber insgesamt als sehr belastend empfundenen Symptomen einer CFS sind vermutlich 0.1–0.5% der Bevölkerung [6]. Was diese Betroffenen häufig schildern, ist der Eindruck, mit den Beschwerden von der Fachwelt nicht ernst genommen zu werden und mit der unspezifischen Diagnose „CFS“ regelrecht abgespeist zu werden [2, 7]. Dabei hat die Diagnose und Forschung bereits eine – um es vorsichtig zu sagen – bewegte Geschichte hinter sich [6]; mit vielerlei Grabenkämpfen widerstreitender Interessen und wissenschaftlicher Sackgassen, so dass inzwischen viele den Begriff „Fatigue“ regelrecht als Reizwort empfinden.
Einige Interessenverbände schlagen daher vor, die „verbrannte Erde“ zu verlassen und eine neue Bezeichnung für diesen Erkrankungskomplex zu definieren. Eine Begrifflichkeit, den man in diesem Zusammenhang etablieren möchte, ist es, von der „Myalgischen Enzephalomyelitis“ (ME) zu sprechen. Hiermit wird jedoch ein medizinisch-molekularer Zusammenhang suggeriert, der sich zumindest für das Gros der Patienten nicht ausreichend wissenschaftlich untermauert lässt: Hintergrund ist die Annahme, es würde sich bei der Fatigue um eine chronische Entzündung (–itis) der Nerven und des Gehirns handeln. Entsprechende Störungen könnten zwar bei einigen Patienten tatsächlich einen ursächlichen Zusammenhang mit der Fatigue-Symptomatik haben, treffen aber höchstwahrscheinlich für die meisten Betroffenen nicht zu! Dennoch wird die Bezeichnung ME/CFS leider regelrecht als „Kampfbegriff“ vorgeschoben, häufig verbunden mit einer Ablehnung anderer, möglicherweise ebenfalls bestehender Zusammenhänge und/oder ansich gut etablierter Behandlungsangebote – zum Beispiel wenn es um psychosomatische Belange geht, welche direkt oder indirekt auf jeden Fall immer eine Rolle spielen [7, 17].
Aufgrund des hohen Leidensdruckes und der Frustration der Patienten über das „sich nicht verstanden Fühlen“ – bis hin zur leider vorkommenden Negation des Leidens durch unsensible behandelnde Ärzte – suchen Patienten, die von chronischer Fatigue betroffen sind, häufig nach alternativen Erklärungsmodellen, die sich mit ihrem eigenen Erlebenswelt besser in Einklang bringen lassen [17].
Aus dem Umfeld teils in widerstreitenden Lobbyverbänden organisierter Patienten, Wissenschaftlern und anderer Interessenvertretern, werden so immer wieder auch neue Hypothesen über die zugrundeliegenden Pathomechanismen der Fatigue geäußert [13] und mehr oder weniger erfolgreiche Versuche unternommen, diese durch Studien zu überprüfen und zu untermauern. Hierbei werden dann, trotz oft wenig gesicherter Daten, teils hochkomplexe Kausalitätsketten gebildet (beispielhaft: [14, 20]). Eine Auswahl verschiedener aktuell populäre Erklärungsansätze für die chronische Fatigue sind vereinfacht in Grafik 2 zusammengefasst.
Trotzdem fehlen nach wie vor verlässliche biologische Marker, so dass weiterhin rein deskriptive, symptomorientierte Diagnosekriterien für die CFS herangezogen werden müssen [2, 4, 6, 12]. So steht etwa bei der CFS, im Gegensatz zur Tumorassoziierten Fatigue, scheinbar ein Symptom im Vordergrund und kann fast als pathognomonisch, bzw. prognostisch entscheidend für die CFS betrachtet werden: die so genannte „post-extortional / post-exersise Malaise“ (PEM), also die Verschlimmerung der Fatigue-Symptome nach körperlicher Anstrengung, die einigen Studien zufolge bei bis zu 95% der CFS-Patienten zu beobachten ist [10, 19, 22]. Manche Interessenvertreter, die diesem Zusammenhang mehr Bedeutung beimessen, votieren daher seit einiger Zeit dafür, die Chronische Fatigue als so genannte »Systemic exertion intolerance disease (SEID)« zu bezeichnen.
Gerne wird allzu vorschnell geschlussfolgert, dass aufgrund der PEM eine Bewegungstherapie kontraproduktiv sei. Dies stimmt jedoch – zumindest in der Absolutheit – nicht! So zeigte eine Cochrane-Analyse bei begrenzter Datenbasis durchaus einen positiven Effekt von Sport und Bewegung auf die Fatigue-Symptomatik [11]. Auch für Ansätze etwa aus der Verhaltenspsychologie gibt es wissenschaftliche Hinweise auf eine Wirksamkeit [8, 23], was jedoch ebenfalls von Vertretern gegensätzlicher ideologischer Meinungen teils heftigst bestitten wird [9].
Dieses Motiv ist leider fast durchgehend zu beobachten: stark ideologisch und mitunter heftig ausgetragener Streit über fast jedes Detail der Diagnose und Therapie; wobei natürlich jeder von der eigenen Meinung vollkommen überzeugt ist. Während eine lebhafte, faktenbasierte Auseinandersetzung im Sinne eines wissenschaftlichen Diskurses durchaus erwünscht oder gar notwendig ist, scheint im vorliegenden Fall das Faktische zunehmend in den Hintergrund zu treten. Hinzu kommt: Je tiefer man in die Thematik eintaucht, desto mehr begegnet man immer abwegiger erscheinenden, eher in den Bereich der Verschwörungstheorien gehörenden, Hypothesen. Dass auch Vertreter dieser „unkonventionellen“ und fernab seriöser Wissenschaft stehenden Erklärungsmodelle sich laut in den Chor der Meinungen zur CFS mischen, macht die Sache nicht einfacher.
Über die Jahre ist es auf Grundlage diverser mehr oder weniger plausibler, jedoch insgesamt meist wenig fundierter Erklärungsansätze, bzw. noch nicht abschließend geklärter molekularer Zusammenhänge und beim Fehlen etablierter biochemischer Marker, zu einem echten Wildwuchs im Bereich der alternativen Therapieangebote gekommen. Patienten sind, aufgrund der Ratschläge vermeintlicher Fatigue-Experten, sogar bereit, teils recht teure Untersuchungen und Behandlungen aus eigener Tasche zu bezahlen; von den Krankenkassen werden diese aufgrund der fehlenden Wirknachweise meist nicht erstattet. Das Spektrum reicht hierbei von Eigenbluttherapie über diverse (hochdosierte) Vitaminkuren, der Osteopathie und Homöopathie bis hin zur Therapie mit Medikamenten abseits der eigentlichen Indikationsbereiche („off-label“).
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es keine ausreichenden Belege über die Wirksamkeit und Sicherheit derartiger alternativer Behandlungen gibt. Sie sind daher – außerhalb von Studien – nicht zu empfehlen!
Mein vorläufiges und persönliches Fazit zur ME/CFE/SEID
Selbst wenn man nur einen Bruchteil der verfügbaren Literatur studiert, muss man zu dem Schluss kommen, dass es sich bei der Chronischen Fatigue in Wahrheit vermutlich um eine Vermischung von komplexen und variablen Symptomkomplexen handelt, denen jeweils ganz verschiedene Ursachen zugrunde liegen – beginnend bei Nebenwirkungen einer [onkologischen] Therapie bis hin zu einem immunologischen Geschehen i.S. einer Myalgischen Enzephalomyelitis oder eher als psychosomatische Rekationen auf diverse auslösende Faktoren bei entsprechend prädisponierten Patienten; letztlich haben wir es also mit verschiedenen Krankheiten zu tun, die heute ‑fälschlicher Weise- unter dem Begriff „CFS“ zusammengefasst werden. So mehren sich beispielsweise tatsächlich plausible Hinweise, dass unter anderem (auto-)immunologische Effekte nach akuten Virusinfekten bei der Entstehung der CFS eine Rolle spielen könnten [3, 18] – entsprechende Zusammenhänge werden etwa für das Ebstein-Barr-Virus und verschiedene Herpesviren vermutet [5, 15].
Letztlich ist zu vermuten, dass jede dieser ganz unterschiedlichen Krankheitsentitäten auch einer spezifischen Diagnostik und Therapie bedarf; zumindest sind auch andere Autoren schon vor mir zu diesem Schluss gekommen [21], interpretieren die Zusammenhänge meines Erachtens aber zu sehr mit ihrer „ideologischen Brille“. Denn erschwerend scheint zu wirken, dass wie bereits oben geschildert, bei einigen Patienten und Behandlern/Forschern eine regelrechte und vehement verteidigte Fixierung auf bestimmte, meist somatisch eingeengte, Erklärungsmodelle besteht [7, 17]. Letzteres werte ich, im Sinne einer umfassenden bio-psycho-sozialen Betrachtung, am ehesten als ein weiteres Symptom der bei den betreffenden Patienten bestehenden Gesundheitsstörung, die insofern auch ernst genommen werden muss.
Zukünftige Studien sollten auf jeden Fall so gestaltet sein, dass durch geeignete Selektionskriterien die „richtigen Patienten“ für die jeweilige Fragestellung ausgewählt werden. Dies dürfte sich derzeit – in Ermangelung nachvollziehbarer und objektivierbarer Paramter – allerdings als schwierig herausstellen [1]. Eine Zukunftsperspektive könnten neue technische Ansätze – etwa die funktionelle MRT und/oder die Nutzung von Machine Learning / KI – bieten (beispielhaft: [16]).
Literatur und Quellen:
- 1.Asprusten TT, Sletner L, Wyller VBB (2021) Are there subgroups of chronic fatigue syndrome? An exploratory cluster analysis of biological markers. J Transl Med. https://doi.org/10.1186/s12967-021–02713‑9
- 2.Bested AC, Marshall LM (2015) Review of Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: an evidence-based approach to diagnosis and management by clinicians. Reviews on Environmental Health. https://doi.org/10.1515/reveh-2015–0026
- 3.Blomberg J, Gottfries C‑G, Elfaitouri A et al (2018) Infection Elicited Autoimmunity and Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: An Explanatory Model. Front Immunol. https://doi.org/10.3389/fimmu.2018.00229
- 4.Carruthers BM, van de Sande MI, De Meirleir KL et al (2011) Myalgic encephalomyelitis: International Consensus Criteria. Journal of Internal Medicine:327–338. https://doi.org/10.1111/j.1365–2796.2011.02428.x
- 5.Cliff JM, King EC, Lee J‑S et al (2019) Cellular Immune Function in Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS). Front Immunol. https://doi.org/10.3389/fimmu.2019.00796
- 6.Cortes Rivera M, Mastronardi C, Silva-Aldana C et al (2019) Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: A Comprehensive Review. Diagnostics:91. https://doi.org/10.3390/diagnostics9030091
- 7.Geraghty KJ, Blease C (2018) Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome and the biopsychosocial model: a review of patient harm and distress in the medical encounter. Disability and Rehabilitation:3092–3102. https://doi.org/10.1080/09638288.2018.1481149
- 8.Gotaas ME, Stiles TC, Bjørngaard JH et al (2021) Cognitive Behavioral Therapy Improves Physical Function and Fatigue in Mild and Moderate Chronic Fatigue Syndrome: A Consecutive Randomized Controlled Trial of Standard and Short Interventions. Front Psychiatry. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021.580924
- 9.Goudsmit E, Howes S (2017) Bias, misleading information and lack of respect for alternative views have distorted perceptions of myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome and its treatment. J Health Psychol:1159–1167. https://doi.org/10.1177/1359105317707216
- 10.Holtzman C, Bhatia S, Cotler J, Jason L (2019) Assessment of Post-Exertional Malaise (PEM) in Patients with Myalgic Encephalomyelitis (ME) and Chronic Fatigue Syndrome (CFS): A Patient-Driven Survey. Diagnostics:26. https://doi.org/10.3390/diagnostics9010026
- 11.Larun L, Brurberg KG, Odgaard-Jensen J, Price JR (2019) Exercise therapy for chronic fatigue syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews. https://doi.org/10.1002/14651858.cd003200.pub8
- 12.Lim E‑J, Son C‑G (2020) Review of case definitions for myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS). J Transl Med. https://doi.org/10.1186/s12967-020–02455‑0
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- 16.Provenzano D, Washington SD, Baraniuk JN (2020) A Machine Learning Approach to the Differentiation of Functional Magnetic Resonance Imaging Data of Chronic Fatigue Syndrome (CFS) From a Sedentary Control. Front Comput Neurosci. https://doi.org/10.3389/fncom.2020.00002
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- 23.White P, Goldsmith K, Johnson A et al (2011) Comparison of adaptive pacing therapy, cognitive behaviour therapy, graded exercise therapy, and specialist medical care for chronic fatigue syndrome (PACE): a randomised trial. The Lancet:823–836. https://doi.org/10.1016/s0140-6736(11)60096–2