Die Diskussion um Sinn und Unsinn unseres täglichen Milchkonsums ist keine neue. Häufig geht es dabei sehr emotional zu und es bilden sich schnell ideologische Lager. Ich will daher versuchen, mich in dieser Reihe über Milch auf die ‚nüchternen medizinischen Fakten‘ zu beschränken. In Teil 1 stelle ich die Frage: „wie wichtig ist Milch für die Knochengesundheit?“
Unter anderem mit dem Slogan »die Milch macht’s« wurde seit den 1920er Jahren mit wohlwollender staatlicher Unterstützung viel Werbung gemacht, um den Milchkonsum der Deutschen Bevölkerung anzukurbeln. Erfolgreich wurde vermittelt, die Milch sei für die Calcium-Zufuhr, ein gesundes Wachstum und einen guten Knochenbau lebensnotwendig. Aber stimmt das wirklich? In letzter Zeit werden hieran immer mehr Zweifel laut.
Inzwischen dürfte sich zumindest herumgesprochen haben, dass Milch eigentlich kein guter ‚Durstlöscher‘ ist, denn dafür ist sie viel zu gehaltvoll: in einem Glas Vollmilch stecken zwar viel hochwertiges Eiweiß, Calcium und Vitamin‑D, aber eben auch mehr Kalorien, als zum Beispiel in einem Glas Cola. Amerikanische Forscher kritisieren daher in einem aktuellen Fachartikel auch die allzu hohen Ernährungsempfehlungen der amerikanischen Gesundheitsbehörde, die der Bevölkerung empfiehlt 3 Gläser und mehr Milch pro Tag zu trinken1.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken – viele Experten, wie etwa der Ernährungswissenschaftler Prof. Andreas Pfeifer von der Berliner Charité, sehen in Milch nach wie vor ein wertvolles Lebensmittel. So sagte Pfeifer im Februar 2020 gegenüber dem Bayerischen Rundfunk:
„Milch ist ein sehr gesundes Nahrungsmittel, das ein hochwertiges Protein hat, das Kalzium enthält und das wichtige Nährstoffe enthält. Das ungünstigste daran sind die gesättigten Fette, deshalb würde ich fettarme Milchprodukte empfehlen“.
- Prof. A. Pfeifer
Pfeifer rät, im Rahmen einer ausgewogenen und gesunden Ernährung zu regelmäßigem, aber nicht übermäßigem Milchverzehr2.
Milch und Knochengesundheit
Für eine gesundes und rasches Wachstum von Kleinkindern und Jugendlichen scheint Milch auf jeden Fall einen wertvollen Beitrag zu liefern. So konnte belegt werden, dass eine erhöhte Calcium-Zufuhr das kindliche Wachstum und die Knochenstabilität fördert3; Kinder werden also wirklich mit Milch »groß und stark«.
Wenn da nur nicht diese verdammte Studie aus 2014 wäre, die aufzeigte, dass ein hoher Milchkonsum in der Kindheit assoziiert ist mit einem später erhöhten Risiko für einen Oberschenkelhalsbruch4. Heißt dies aber nun, Milch macht die Knochen weich? Nein! Eher spielen beim Frakturrisiko Faktoren wie die Körpergröße und das Gewicht eine Rolle – platt gesagt: je größer und schwerer man wird, vielleicht auch dank der Milch, desto höher ist statistisch betrachtet das Risiko, dass man sich irgendwann im Leben Mal die Knochen bricht5,6.
Wenn man die vollmundigen Werbe-Versprechen der letzten Jahrzehnte im Ohr hat, fällt die Datenlage für Erwachsene bezüglich der Senkung des Osteoporose-Risikos durch Milchprodukte eher enttäuschend aus.
Bereits in 2014 hatte eine britische Kohortenstudie für einiges Aufsehen gesorgt: in der Untersuchung war ein vermehrter Milchkonsum im Erwachsenenalter mit einem erhöhten Fraktur- und Sterberisiko assoziiert7. Doch Vorsicht: auch aus der Studie kann man nicht etwa schließen, dass die Milch für diesen negativen Effekte verantwortlich wäre! Denn häufig berücksichtigen solche Studien nicht ausreichen die Begleitumstände: aufgrund der Gesundheitskampagnen und häufig auf Anraten der behandelnden Ärzte trinken vermutlich eher Menschen mit schwachen Knochen extra viel Milch – Damit wären die schwachen Knochen und das Frakturrisiko der Auslöser für den Milchkonsum und nicht umgekehrt! Zumindest kann man festhalten, dass hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Andererseits zeigt der Blick über den Tellerrand, dass in vielen Ländern der Erde traditionell nur wenig Milch konsumiert wird; trotzdem brechen sich dort die Menschen auch nicht öfters die Hüfte, als bei uns! Eher im Gegenteil: in Ländern, die ihren Eiweiß- und Calciumbedarf eher durch pflanzliche Lebensmittel decken, scheint das Vorkommen von Osteoporose und damit das Frakturrisiko zum Teil deutlich geringer auszufallen, als in den klassischen Milchtrinker-Nationen8.
Für Osteoporose ist es nicht entscheidend, wieviel Milch Sie trinken.
- Prof. B. Watzl
Der Deutsche Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Bernhard Watzl vom Max Rubner-Institut und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bestätigt gegenüber dem Wissenschaftsportal Medscape, dass es wohl keinen gesicherten Zusammenhang zwischen Milchkonsum und Osteoporose gibt – „weder positiv noch negativ […] Für Osteoporose ist es nicht entscheidend, wieviel Milch Sie trinken.“9. Der Wissenschaftler gibt jedoch auch zu bedenken, dass die Zusammenhänge auch hier, wie so oft, wesentlich komplexer sind. So werden beispielsweise vorwiegend in nördlichen Ländern, die eine geringe Vitamin-D-Eigenproduktion aufweisen, vergleichsweise viele Milchprodukte konsumiert; hier stellen diese einen wertvollen Lieferanten für Vitamin‑D dar. Weil gerade dieses Vitamin für den Knochenstoffwechsel von großer Bedeutung ist, könnten im Ergebnis gegenläufige Effekte auftreten: erhöhte Frakturgefahr durch Vitaminmangel, in denen die Milch immerhin teilweise, aber vielleicht nicht ganz, den Mangel ausgleicht. Dann wäre es aber widersinnig, der Milch die Schuld zu geben!
Die amerikanischen Autoren Willet und Ludwig bringen es auf diese Formel: ob Milch für unsere Ernährung wirklich entscheidend ist, hängt davon ab, wie wir uns sonst ernähren. Haushalte mit einer eher schlechten Grundversorgung finden in Milch einen guten Lieferanten von hochwertigem Eiweiß, Vitaminen und Spurenelementen.
Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass es für alle diese Inhaltsstoffe mindestens gleichwertigen (pflanzlichen) Ersatz gibt. Wer also unbedingt Wert auf eine Ernährung ohne Milchprodukte legt – etwa aus ethischen Gründen oder weil man Milch aufgrund einer Laktoseintoleranz nicht verträgt, der kann sich ebenfalls vollwertig ernähren, ohne einen Mangel zu entwickeln8.
Mein vorläufiges Fazit, Thema „Milch und Knochen“
Viel Lärm um Nichts. Die Datenlage ist kompliziert und uneinheitlich. Milch fördert bei Kleinkindern das Wachstum und liefert uns wichtige Nährstoffe. Zwar wurden die durchaus vorhandenen positiven gesundheitlichen Effekte von Milch hinsichtlich der Knochengesundheit in der Vergangenheit viel zu sehr übertrieben dargestellt, Milch ist aber sicher auch kein Teufelszeug. Studien die einen Negativeffekt nahe legen, bleiben häufig die Antwort schuldig: was ist Ursache und was Wirkung?!
Im nächsten Teil meiner Reihe über Milch wird es vor allem um die Frage gehen, ob von Milch ein Krebsrisiko ausgeht oder ob sie uns eventuell sogar vor Krebs bewahrt!
Quellen und Anmerkungen:
- Willett, WC & Ludwig, DS: „Milk and Health“. N Engl J Med, 2020 Feb 13; S. 644–54. [Abstract] ↑
- Jall, M.: „Gesund oder gefährlich: Warum Milch besser ist, als ihr Ruf“. Rundfunkbeitrag vom 20.02.2020, Bayerischer Rundfunk. ↑
- Huncharek, M; Muscat, J; et al.: „Impact of dairy products and dietary calcium on bone-mineral content in children: results of a meta-analysis“. Bone 2008; 43: 312–321 [Abstract] ↑
- Feskanich, D; Bischoff-Ferrari, HA; et al.: „Milk Consumption During Teenage Years and Risk of Hip Fractures in Older Adults“ JAMA Pediatr 2014; 54 [Abstract] ↑
- Sadeghi, O; Saneei, P; et al.: „Abdominal Obesity and Risk of Hip Fracture: A Systematic Review and Meta-Analysis of Prospective Studies“ Adv Nutr. 2017 Sep 15;8(5):728–738. [Abstract] ↑
- Xiao, Z; Ren, D; et al.: „Height and Risk of Hip Fracture: A Meta-Analysis of Prospective Cohort Studies“. Biomed Res Int. 2016;2016:2480693 [Abstract] ↑
- Michaelsson K, Wolk A, et al.: „Milk intake and risk of mortality and fractures in women and men: cohort studies.“ BMJ 2014; g6015–g6015 [Abstract] ↑
- Willett, WC & Ludwig, DS: „Milk and Health“. N Engl J Med, 2020 Feb 13; S. 644–54. [Abstract] ↑↑
- Sieb A: „»Kein Mensch braucht Milch und Milchprodukte« – US-Forscher kritisieren im NEJM zu hohe Verzehrempfehlungen.“ Medscape 2020, letzter Zugriff am 19.05.2020 ↑